1 00:00:00,000 --> 00:00:00,480 Wenn ich das 2 00:00:00,480 --> 00:00:04,040 Wort Biografie höre, muss ich immer an berühmte Persönlichkeiten denken, 3 00:00:04,320 --> 00:00:06,440 die über ihr Leben ein Buch veröffentlicht haben. 4 00:00:06,440 --> 00:00:07,920 Beispielsweise Montana Black. 5 00:00:07,920 --> 00:00:12,040 Aber nicht nur berühmte Persönlichkeiten haben eine Biografie, sondern wir alle. 6 00:00:12,040 --> 00:00:13,120 Auch du. 7 00:00:13,120 --> 00:00:16,920 Und eben diese Biografie kann in der Sozialen Arbeit relevant sein, 8 00:00:17,280 --> 00:00:20,240 weshalb wir uns damit in der biografischen Diagnostik 9 00:00:20,240 --> 00:00:23,240 beschäftigen. 10 00:00:24,240 --> 00:00:27,640 In diesem Video werden wir erklären, was biografische Diagnostik ist. 11 00:00:27,680 --> 00:00:29,120 Dazu schauen wir uns zunächst mal 12 00:00:29,120 --> 00:00:32,160 die Begriffe Biografie und biografische Diagnostik an. 13 00:00:32,200 --> 00:00:36,040 Danach erörtern wir, wie eine Biografie sozial geformt und verstanden werden kann 14 00:00:36,040 --> 00:00:38,680 und greifen einige Perspektiven der Sozialen Arbeit auf, 15 00:00:38,680 --> 00:00:39,840 die damit in Verbindung stehen. 16 00:00:39,840 --> 00:00:43,240 In einem weiteren Video werden wir Konzepte und Verfahren biografischer 17 00:00:43,240 --> 00:00:46,240 Diagnostik vorstellen. 18 00:00:47,520 --> 00:00:49,600 Was verstehen wir unter Biografie? 19 00:00:49,600 --> 00:00:54,040 Das Wort Biografie setzt sich zusammen aus den altgriechischen Wörtern 20 00:00:54,040 --> 00:00:55,480 “bios” und “graphein”. 21 00:00:55,480 --> 00:00:59,280 Übersetzt bedeutet das Leben, malen, schreiben, ritzen. 22 00:00:59,320 --> 00:01:02,960 Biografie ist also die Beschreibung des Lebens einer Person. 23 00:01:03,240 --> 00:01:07,600 Die Lebensgeschichte. Miethe beschreibt, dass Biografien subjektive 24 00:01:07,600 --> 00:01:12,400 und bedeutungsstrukturierte Konstruktionen des individuellen Lebens sind. 25 00:01:12,480 --> 00:01:16,080 Biografien bilden sich in der kognitiven, emotionalen 26 00:01:16,080 --> 00:01:19,680 und körperlichen Auseinandersetzung zwischen individuellem 27 00:01:19,680 --> 00:01:22,840 Erleben und gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen. 28 00:01:22,920 --> 00:01:25,440 Damit wird der Unterschied zum Lebenslauf deutlich. 29 00:01:25,440 --> 00:01:29,080 In einem Lebenslauf werden biografische Ereignisse 30 00:01:29,080 --> 00:01:32,760 im Sinne von Daten und Fakten chronologisch aufgelistet. 31 00:01:32,760 --> 00:01:36,600 In der biografischen Erzählung verleiht der:die Biograf*in 32 00:01:36,800 --> 00:01:38,640 dessen Geschehnissen Bedeutung. 33 00:01:38,640 --> 00:01:41,760 Biografien sind also Erzählungen über das erlebte 34 00:01:41,760 --> 00:01:45,560 Leben einer Person innerhalb einer Lebensspanne zu verstehen. 35 00:01:48,760 --> 00:01:50,680 Und nun zu biografischer Diagnostik. 36 00:01:50,680 --> 00:01:53,680 Allgemein bezieht sich der Begriff biografische Diagnostik 37 00:01:53,840 --> 00:01:55,360 auf denjenigen Prozess, 38 00:01:55,360 --> 00:01:58,120 durch den Informationen über die Lebensgeschichte und den 39 00:01:58,120 --> 00:02:01,920 Lebensverlauf von Klient*innen erhoben, analysiert und interpretiert werden. 40 00:02:01,960 --> 00:02:04,960 Dabei werden familiäre Hintergründe, Partnerschaften, 41 00:02:05,040 --> 00:02:08,960 Elternschaften ,Bildungswege beruflicher Werdegang, soziale Netzwerke 42 00:02:08,960 --> 00:02:13,720 über die Lebensspanne, Statuspassagen, biografische Wendepunkte, gesundheitliche 43 00:02:13,720 --> 00:02:16,880 und psychosoziale Herausforderungen, Krisen usw. 44 00:02:16,880 --> 00:02:19,880 in den Blick genommen. 45 00:02:20,880 --> 00:02:22,800 In der biografischen Diagnostik 46 00:02:22,800 --> 00:02:27,600 geht es zunächst um das professionelle Verstehen biografischer Strukturen von Klient*innen. 47 00:02:28,280 --> 00:02:32,120 Damit sind sowohl Muster und Strukturen im Lebensverlauf 48 00:02:32,440 --> 00:02:35,400 als auch in der autobiografischen Erzählung gemeint. 49 00:02:35,400 --> 00:02:40,200 Informationen über Ereignisse und Lebensphasen, über Daten und Fakten 50 00:02:40,480 --> 00:02:43,800 werden mit den subjektiven Sichtweisen und Bedeutungen verbunden, 51 00:02:44,120 --> 00:02:49,200 die Klient*innen ihren Erfahrungen geben. Die gemeinsame Reflexion von Selbstsichten 52 00:02:49,440 --> 00:02:53,320 Bewältigungsstrategien, Erklärungen und Werthaltungen etc. 53 00:02:54,120 --> 00:02:57,720 soll für die Stärkung der Ressourcen der Klient*innen genutzt 54 00:02:57,720 --> 00:03:01,800 werden. Sei es, weil bewährte Bewältigungsstrategien aktiviert werden, 55 00:03:02,200 --> 00:03:06,360 sei es, weil neue Perspektiven und neue Handlungsoptionen entwickelt werden. 56 00:03:06,360 --> 00:03:10,200 Jedenfalls soll die biografische Diagnostik dazu genutzt 57 00:03:10,200 --> 00:03:12,040 werden, die Handlungsfähigkeit 58 00:03:12,040 --> 00:03:16,080 der Klient*innen zu stärken, zu erweitern oder wiederherzustellen. 59 00:03:19,360 --> 00:03:22,520 In vielen Konzepten der biografischen Diagnostik spielt 60 00:03:22,520 --> 00:03:26,880 die Erzählung - also das erzählte Leben von Menschen - eine ausgezeichnete Rolle. 61 00:03:26,880 --> 00:03:30,480 Ein Kernelement der biografischen Diagnostik ist nach Fischer und Goblirsch 62 00:03:30,680 --> 00:03:33,680 die Narration bzw. das narrative Interview. 63 00:03:33,680 --> 00:03:37,080 Klient*innen werden in so einem biographisch-narrativen Interview 64 00:03:37,440 --> 00:03:40,040 zunächst mit einer offenen Einstiegsfrage angeregt, 65 00:03:40,040 --> 00:03:42,720 vom eigenen Leben und von eigenen Erfahrungen zu erzählen. 66 00:03:42,720 --> 00:03:46,720 Diese Narration wird auch als autobiographische Stegreiferzählung 67 00:03:46,720 --> 00:03:47,280 bezeichnet. 68 00:03:47,280 --> 00:03:48,920 Die Mitteilung des Erlebens 69 00:03:48,920 --> 00:03:53,400 in narrativer Form vermittelt einerseits den Ereignis- und Erlebensablauf 70 00:03:53,640 --> 00:03:54,720 und andererseits 71 00:03:54,720 --> 00:03:58,560 wird das emotionale Empfinden und die Bedeutungskonstruktion dargestellt. 72 00:03:58,560 --> 00:04:01,440 Wenn der*die Klient*in die Lebensgeschichten- 73 00:04:01,440 --> 00:04:05,280 Erzählung abgeschlossen hat, werden spezifische Nachfragen gestellt, 74 00:04:05,280 --> 00:04:09,320 um weitere Informationen zu bestimmten Lebensphasen oder Themen zu erhalten. 75 00:04:09,320 --> 00:04:12,640 Im Rahmen von eher aufwändigen Konzepten der biographischen Diagnostik 76 00:04:13,040 --> 00:04:15,880 wird das Interview auch aufgezeichnet und transkribiert, 77 00:04:15,880 --> 00:04:18,920 um es anschließend systematisch analysieren zu können. 78 00:04:22,200 --> 00:04:22,560 Zu den 79 00:04:22,560 --> 00:04:25,640 Besonderheiten Autobiographische Stegreiferzählungen. 80 00:04:25,680 --> 00:04:28,960 Diese folgen meistens bestimmten Mustern und Regeln, 81 00:04:29,200 --> 00:04:30,800 die sozial vermittelt sind. 82 00:04:30,800 --> 00:04:33,800 Zumeist orientieren wir uns als Biograf*innen 83 00:04:33,920 --> 00:04:36,840 in der Gesamterzählung an der eigenen, chronologisch 84 00:04:36,840 --> 00:04:40,120 verlaufenden Lebenszeit von der Geburt bis heute. 85 00:04:40,160 --> 00:04:40,920 Gleichzeitig 86 00:04:40,920 --> 00:04:45,400 bleiben wir bei einzelnen Themen länger und detailreicher stehen als bei anderen. 87 00:04:45,440 --> 00:04:49,120 Das kann mit uns und unserem erlebten Leben zu tun haben. 88 00:04:49,160 --> 00:04:52,400 Wie wir zum Beispiel bestimmte Ereignisse verarbeitet haben 89 00:04:52,680 --> 00:04:56,440 und welche Wirkung auf unser Leben wir diesen Ereignissen zuweisen. 90 00:04:56,480 --> 00:04:59,480 Dann beschreiben wir manche Erlebnisse detailreich 91 00:04:59,600 --> 00:05:02,880 und erzählen von unseren Gefühlen, Gedanken, Handlungen. 92 00:05:02,880 --> 00:05:06,320 Damit konstruieren wir eine sinnhafte Entwicklungsgeschichte. 93 00:05:06,320 --> 00:05:10,200 Wie wir unsere Narration gestalten, kann auch damit zu tun haben, 94 00:05:10,320 --> 00:05:13,880 wie wir uns gegenüber dem* der Rezipient*in zeigen wollen. 95 00:05:13,880 --> 00:05:18,080 Oder es kann daran liegen, dass wir unsere Erzählung spannend gestalten wollen. 96 00:05:18,120 --> 00:05:20,880 Christina Hölze fasst das gut zusammen, 97 00:05:20,880 --> 00:05:25,440 wenn sie die Biografie als ein reflexiven, kreativen und selektiven 98 00:05:25,440 --> 00:05:29,520 Prozess einer späteren Konstruktion von Lebenserfahrungen beschreibt. 99 00:05:29,560 --> 00:05:31,440 Manchen Menschen fällt es schwer, 100 00:05:31,440 --> 00:05:34,760 eine sinnhaft aufgebaute Lebensgeschichte zu erzählen. 101 00:05:34,800 --> 00:05:39,080 So könnte man bei Langzeitpsychiatriepatient*innen feststellen, 102 00:05:39,080 --> 00:05:43,640 wie professionelle Sichtweisen übernommen werden und die eigene Biografie 103 00:05:43,920 --> 00:05:44,960 fremdwerden kann. 104 00:05:44,960 --> 00:05:48,240 Bei Menschen, die komplexe Traumatisierungen erlitten haben, 105 00:05:48,600 --> 00:05:51,600 werden Ereignisse oft unverbunden dargestellt, 106 00:05:51,840 --> 00:05:54,360 die Erzählung ist brüchig, fragmentiert. 107 00:05:54,360 --> 00:05:58,040 Es ist wichtig zu respektieren, wenn traumatisierte Klient*innen 108 00:05:58,280 --> 00:06:01,640 nicht über Ereignisse oder ihre Lebensgeschichte sprechen wollen, 109 00:06:01,680 --> 00:06:04,800 um das Risiko einer Retraumatisierung zu vermeiden. 110 00:06:08,000 --> 00:06:10,760 Bei allem bisher Gesagten sollte deutlich geworden 111 00:06:10,760 --> 00:06:14,480 sein, dass Biografien aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden können. 112 00:06:14,520 --> 00:06:18,480 Um also einzelne Biografien deuten zu können, müssen Lebensbedingungen 113 00:06:18,560 --> 00:06:22,520 und Lebenslagen des jeweiligen Menschen im Wissen um die Wechselwirkungen 114 00:06:22,520 --> 00:06:26,400 mit modernen Gesellschaften genauso berücksichtigt werden wie Deutungsregeln. 115 00:06:26,440 --> 00:06:30,880 Zwei Ansätze zur Deutung von Biografien seien an dieser Stelle vorgestellt: 116 00:06:30,920 --> 00:06:35,080 Starten wir mit dem methodischen Vorgehen zur Deutung von Mustern autobiografischer 117 00:06:35,520 --> 00:06:37,080 Stegreiferzählungen nach Fritz Schütze. 118 00:06:37,080 --> 00:06:39,280 Schütze nutzt zur Material- bzw. 119 00:06:39,280 --> 00:06:41,400 Informationsbeschaffung narrative Interviews. 120 00:06:41,400 --> 00:06:44,760 Bei diesen Interviews geben Diagnostiker*innen einen Erzählimpuls - 121 00:06:44,760 --> 00:06:45,600 z.B.: 122 00:06:45,600 --> 00:06:48,600 “Berichte mir von meinem Leben und beginne mit der frühesten Erinnerung”. 123 00:06:48,600 --> 00:06:52,560 Diese Selbstberichte werden als Audioaufzeichnung abgelegt 124 00:06:52,560 --> 00:06:54,400 und später exakt verschriftlicht. 125 00:06:54,400 --> 00:06:58,040 Bei der Analyse der Selbstberichte lassen sich nach Kallmeyer und Schütze 126 00:06:58,160 --> 00:07:00,320 schließlich drei zentrale Formen entdecken: 127 00:07:00,320 --> 00:07:02,760 Beschreibung, Argumentation und Erzählung. 128 00:07:02,760 --> 00:07:06,480 Eine Beschreibung ist die komprimierte Darstellung einer Ereigniskette. 129 00:07:06,520 --> 00:07:08,560 Dabei wird die Situation aus Beobachter* 130 00:07:08,560 --> 00:07:11,640 innenperspektive beschrieben und nicht sinnhaft strukturiert. 131 00:07:11,680 --> 00:07:12,840 Bei der Argumentation 132 00:07:12,840 --> 00:07:16,920 werden Ereignisse und Erfahrungen aus aktueller Sicht bewertet und reflektiert. 133 00:07:16,920 --> 00:07:20,400 Allerdings beinhaltet die Argumentation oft viele Allgemeinplätze. 134 00:07:20,440 --> 00:07:22,240 Die persönlichste Form ist die Erzählung. 135 00:07:22,240 --> 00:07:26,360 Dabei ist der*die Erzählende gut bei sich und gibt neben dem Erzählstrang 136 00:07:26,360 --> 00:07:29,240 Empfindungen, Emotionen, Gedanken usw preis. 137 00:07:29,240 --> 00:07:31,520 Erzählungen sind somit komplexe Konstruktionen, 138 00:07:31,520 --> 00:07:33,840 auf ein oder mehrere vergangene Ereignisse. 139 00:07:33,840 --> 00:07:37,040 Schütze hat noch auf sogenannte Erzählzwänge hingewiesen, 140 00:07:37,040 --> 00:07:39,200 also Mechanismen, die in bestimmten Situationen 141 00:07:39,200 --> 00:07:41,440 unter bestimmten Umständen zur Erzählung führen. 142 00:07:41,440 --> 00:07:43,480 Menschen fühlen sich dann z.B. sozial 143 00:07:43,480 --> 00:07:45,480 verpflichtet, bestimmte Details zu nennen, 144 00:07:45,480 --> 00:07:48,640 oder Sinnschließung zu ermöglichen, oder sich selbst zu erleichtern. 145 00:07:48,680 --> 00:07:51,920 Drei besonders relevant erscheinende Zwänge macht Schütze schließlich 146 00:07:51,920 --> 00:07:55,760 aus Gestaltschließungs-, Kondensierungs-. und Detaillierungszwang. 147 00:07:55,800 --> 00:07:59,720 Unter Gestaltschließungszwang versteht Schütze, dass Menschen die Tendenz haben, 148 00:08:00,000 --> 00:08:02,320 eine begonnene Erzählung auch abzuschließen. 149 00:08:02,320 --> 00:08:04,600 Rund zu machen könnte man auch neudeutsch sagen. 150 00:08:04,600 --> 00:08:07,560 Dadurch werden manchmal Kontextinformationen vermittelt oder 151 00:08:07,560 --> 00:08:10,880 es werden zum besseren Verständnis ergänzende Ereignisse aufgegriffen. 152 00:08:10,920 --> 00:08:15,240 Der Relevanzfestlegungs-. bzw. Kondensierungszwang beruht darauf, 153 00:08:15,240 --> 00:08:19,760 dass das Erzählmoment und die Erlebenszeit natürlich nicht identisch sind. 154 00:08:19,800 --> 00:08:23,160 Die Erzählung muss somit komprimiert werden, und zwar auf jene Details, 155 00:08:23,160 --> 00:08:26,280 die dem*der Erzähler*in persönlich besonders wichtig erscheinen. 156 00:08:26,280 --> 00:08:30,840 Als Detaillierungszwang wird bezeichnet, dass Ereignisse manchmal sehr detailliert 157 00:08:30,840 --> 00:08:31,520 beschrieben werden 158 00:08:31,520 --> 00:08:32,920 müssen, um die Kohärenz, 159 00:08:32,920 --> 00:08:35,920 also den Gesamtzusammenhang, der Erzählung darstellen zu können. 160 00:08:35,920 --> 00:08:39,480 Abschließend macht Schütze noch deutlich, dass Narrationen Strukturen folgen, 161 00:08:39,480 --> 00:08:43,760 die es dem*der Rezipient*in ermöglichen, sich innerhalb der Biografie 162 00:08:43,760 --> 00:08:44,840 orientieren zu können. 163 00:08:44,840 --> 00:08:48,920 Das ist extrem hilfreich, wenn es um hochkomplexe Biografien geht. 164 00:08:48,960 --> 00:08:51,960 In vielen Ansätzen der biografischen Diagnostik 165 00:08:52,080 --> 00:08:55,760 werden narrativ-biografische Interviews für einen komplexen 166 00:08:55,760 --> 00:08:59,560 lebenswelt und biografieorientierten Erkenntnisgewinn genutzt, 167 00:08:59,640 --> 00:09:00,880 im Sinne einer Anamnese. 168 00:09:00,880 --> 00:09:04,520 Diagnose bedeutet hier ein Vorgehen, das sich an Prinzipien 169 00:09:04,760 --> 00:09:08,040 sozialwissenschaftlicher Biografieforschung orientiert. 170 00:09:08,080 --> 00:09:12,360 Dabei werden strukturelle Erkenntnisse über soziale Handlungsmuster 171 00:09:12,360 --> 00:09:15,560 im Kontext der Lebensgeschichte herausgearbeitet. 172 00:09:15,600 --> 00:09:20,160 Fischer und Goblirsch, aber auch Hölzle betonen in der biografischen Diagnostik 173 00:09:20,440 --> 00:09:24,560 neben den problematischen Verläufen den Blick auf die Ressourcen zu legen, 174 00:09:24,560 --> 00:09:27,720 um diese im weiteren Hilfeverlauf nutzbar zu machen. 175 00:09:27,720 --> 00:09:30,640 Hölzle benennt dabei ausdrücklich die Möglichkeit, 176 00:09:30,640 --> 00:09:33,600 die Lebensgeschichte als Ressourcenpool zu nutzen. 177 00:09:33,600 --> 00:09:36,800 Das Erinnern an bewältigte frühere Herausforderungen 178 00:09:37,080 --> 00:09:39,960 kann das Gefühl der Selbstwirksamkeit stärken 179 00:09:39,960 --> 00:09:43,440 und stimuliert die Wahrnehmung von Ressourcen und Potenzialen. 180 00:09:43,440 --> 00:09:44,760 Diese können dann auf 181 00:09:44,760 --> 00:09:48,840 aktuelle und künftige Aufgaben und Herausforderungen übertragen werden. 182 00:09:48,880 --> 00:09:53,320 In der biografischen Diagnostik kann es auch um viel Rekonstruktion 183 00:09:53,520 --> 00:09:57,000 auf Basis manchmal sehr komplexer Informationen gehen. 184 00:09:57,000 --> 00:10:02,200 Aber, Schrapper und Thiesmeier meinen, dass bestimmte Muster auf grundlegender Ebene 185 00:10:02,520 --> 00:10:07,480 die Basis für Orientierung und Teilhabe eines Menschen an seiner Umwelt bilden. 186 00:10:07,520 --> 00:10:10,040 Ziel der biografischen Diagnostik ist, 187 00:10:10,040 --> 00:10:13,800 die Strukturen zu finden, die einen Menschen zum Individuum machen. 188 00:10:13,800 --> 00:10:18,000 Eine Steigerung der Autonomie von Klient*innen kann über unser Wissen 189 00:10:18,000 --> 00:10:21,360 über die fallspezifischen Muster ihrer Wirklichkeitsverarbeitung 190 00:10:21,520 --> 00:10:25,520 erlangt werden, wenn daraus passende Interventionen abgeleitet werden. 191 00:10:25,560 --> 00:10:29,680 In der Fallrekonstruktion ist die Unterscheidung zwischen gelebter, 192 00:10:30,040 --> 00:10:35,680 erzählter und erlebter Lebensgeschichte das zentrale Merkmal. Gelebt meint 193 00:10:35,920 --> 00:10:40,680 objektive biographische Ereignisse ohne subjektive Dimensionen. 194 00:10:41,280 --> 00:10:45,120 Erzählt bedeutet die Art und Weise der Selbstpräsentation 195 00:10:45,400 --> 00:10:47,680 in autobiografischer Interaktion. 196 00:10:47,680 --> 00:10:51,480 Das erlebte Leben wiederum beschreibt die subjektive Wahrnehmung 197 00:10:51,480 --> 00:10:55,480 biografischer Ereignisse, wie sie sich im Laufe des Lebens verändert hat 198 00:10:55,880 --> 00:10:58,560 und wie die Ereignisse aktuell erlebt werden. 199 00:10:58,560 --> 00:11:01,640 Im diagnostischen Prozess werden sequenziell 200 00:11:01,640 --> 00:11:05,640 auf diesen drei Ebenen Hypothesen gebildet und ausgeschlossen. 201 00:11:05,640 --> 00:11:08,840 Das Ergebnis der Analyse, die geprüften Hypothesen 202 00:11:08,840 --> 00:11:12,080 werden dann prozessorientiert aufeinander bezogen. 203 00:11:12,120 --> 00:11:16,160 Relevant sind dabei die Themen, die sich im narrativen Interview 204 00:11:16,160 --> 00:11:20,440 für den oder die Biographen/in als besonders wichtig herausstellen. 205 00:11:20,480 --> 00:11:24,280 Das können Schlüsselszenen sein, die biographische Phasen einleiten, 206 00:11:24,760 --> 00:11:28,880 schwierig zu bewältigen waren oder besonders positiv wahrgenommen wurden. 207 00:11:32,200 --> 00:11:35,280 Kommen wir zu einem weiteren Ansatz zur Deutung von Biografien. 208 00:11:35,360 --> 00:11:39,960 Der zweite Ansatz stellt die kulturräumlichen, zeitlichen, epochalen 209 00:11:39,960 --> 00:11:44,120 und örtlichen Gegebenheiten des erlebten und erzählten Lebens in Rechnung. 210 00:11:44,160 --> 00:11:47,200 Denn es erscheint nur logisch, dass die Biographie 211 00:11:47,200 --> 00:11:51,120 einer alleinerziehenden Frau im Zweiten Weltkrieg in den Niederlanden, 212 00:11:51,120 --> 00:11:54,920 besetzt von deutschen Truppen, eine grundlegende andere ist als 213 00:11:54,920 --> 00:11:58,800 die Biographie eines 30-jährigen Mannes aus Akademikerhaushalt, 214 00:11:58,800 --> 00:12:01,400 zum jetzigen Zeitpunkt in München lebend. 215 00:12:01,400 --> 00:12:04,360 Dausien beschreibt, dass, um Biografie zu verstehen, 216 00:12:04,360 --> 00:12:05,800 immer auch Interaktions- 217 00:12:05,800 --> 00:12:09,080 und Handlungssituationen, Lebensmilieus und soziale Welten 218 00:12:09,080 --> 00:12:10,080 betrachtet werden müssen. 219 00:12:10,080 --> 00:12:12,440 Biographie ist also kontextabhängig zu verstehen. 220 00:12:12,440 --> 00:12:16,280 Und das betrifft nicht nur so vermeintlich klare Unterschiede, wie die gerade eben 221 00:12:16,320 --> 00:12:18,360 gezeichneten, sondern auch sehr feine. 222 00:12:18,360 --> 00:12:22,600 Wir alle erleben unser Leben immerzu Kontext gebettet und was wir erleben, 223 00:12:22,600 --> 00:12:26,640 ist auch abhängig davon, wo, wann und wie wir mit wem gerade sind. 224 00:12:26,720 --> 00:12:29,320 Einzelpersonen stehen in sozialen Bezügen. 225 00:12:29,320 --> 00:12:33,000 Denn als Menschen sind wir konstitutiv - wie man in der Wissenschaft sagt - 226 00:12:33,160 --> 00:12:37,240 soziale Wesen. Soziale Wesen zu sein, macht uns also geradewegs zu Menschen. 227 00:12:37,280 --> 00:12:40,000 Oder wie Buber es sagt: Wir werden am Du zum Ich. 228 00:12:43,360 --> 00:12:45,120 Die biografische Diagnostik 229 00:12:45,120 --> 00:12:49,000 ist eine Schlüsselkomponente in der Sozialen Arbeit, die Praktiker*innen 230 00:12:49,040 --> 00:12:52,680 dabei hilft, effektive und zielgerichtete Unterstützungsspläne zu entwickeln. 231 00:12:52,680 --> 00:12:57,280 Durch die sorgfältige Sammlung, Analyse und Interpretation von Informationen 232 00:12:57,280 --> 00:13:00,480 aus der Lebensgeschichte ihrer Klient*innen können Sozialarbeiterinnen 233 00:13:00,480 --> 00:13:04,240 einen bedeutenden Einfluss auf das Leben der Menschen haben, die sie beraten 234 00:13:04,240 --> 00:13:05,120 und/oder betreuen. 235 00:13:05,120 --> 00:13:08,760 Deshalb ist es sehr wichtig, diese Methode verantwortungsbewusst 236 00:13:09,000 --> 00:13:12,080 und ethisch zu nutzen, damit das Wohlbefinden 237 00:13:12,080 --> 00:13:15,520 und die Selbstbestimmung der Klientinnen gefördert werden kann.